(un)sichtbar am Mittelmeer
Es war unser letzter gemeinsamer Urlaub, leider nahmen wir nur unbewusst wahr, dass dies unsere Abschiedsreise war. Viele Abenteuer hatten wir gemeinsam genossen, waren zusammen ans Ende der Welt gereist, hatten dort Pinguine beobachtet, uns die Haare vom wilden Weltenende-wind zerzausen und der etlichen mehr. Hätte ich mich dieser Situation gefasster und selbstsicherer, vor allem, bewusst gestellt, wäre es sehr wahrscheinlich eine friedliche Trennung geworden. Eine, in der sich beide mit einem weinenden und einem lachenden Auge voneinander verabschieden, da beiden klar ist, dass das Leben etwas anderes für sie bereithält und der gemeinsame Weg, an dieser Stelle beendet ist.
Wir waren in Südspanien, reisten durch die Provinz Granada, unsere Unterkunft befand sich in den Bergen der Sierra Nevada. Ich war beeindruckt von der Architektur der alten Mauren. Die Mauren lebten vor allem im Mittelalter in Teilen Spaniens und hatten einen erheblichen Einfluss auf die Architektur, Landwirtschaft und Wissenschaft in der Region. Bis heute sind die kulturellen Einflüsse der Mauren in der spanischen Sprache, der Küche und in verschiedenen Traditionen erkennbar. Ich liebte die weissen Gebäude und Brunnen, welche mit den Gebirgsfelsen verwachsen zu sein schienen. Ihre Architektur war schlicht und ästhetisch. Ich empfand ein Gefühl tiefen Friedens und Ruhe beim Betrachten. Da uns das grosse, weite Meer genauso stark anzog wie die Berge, waren wir nun auf dem Weg zum Mittelmeer. Wir hatten uns vorgenommen eine Stelle zum Baden zu finden, welche nicht überlaufen sein sollte oder als offizieller Strand betitelt war. Wir beschlossen einen Tagesausflug ans Meer zu unternehmen und parkten unser Mietauto so nah wie möglich an den Klippen, welche der Zugang zum Meer waren. Nun begann das Abenteuer. Wir liefen in Richtung Felsen, um einen Pfad ans Meer zu suchen. Bevor wir diesen tatsächlich auch entdeckten, fanden wir uns vor einem riesigen Plastikgewächshaus wieder. Wir waren einige Kilometer von Almeria entfernt, von dem wir natürlich schon einiges gehört hatten, und so überraschte mich die Grösse dieser unbekannten, nicht relevanten Gewächshausanlage. Wir schauten uns an, wortlos war klar, bevor wir schwimmen gehen würden, würden wir ein Blick in dieses Plastikmeer werfen. Leise krochen wir unter einer Plastikwand hindurch, was ein Kinderspiel war. Im Inneren angekommen und aufgestanden öffnete sich mir die Kinnlade. Es war gigantisch gross und stank dermassen nach Plastik, dass ich Angst bekam an einer Plastikvergiftung zu sterben. Wir sahen Auberginen, Paprika und Bohnen, zum Teil bereits geerntet, der Boden kaputt und ebenfalls mit sich bereits ablösenden Plastik bedeckt. Plastik! Plastik! Plastik! Alles voll davon. Während ich meine Blicke über diesen «Garten» schweifen lies, entdeckte ich ein Plastikhaus im Plastikgewächshaus! Ich lief sofort los und Dario kam mir im Stechschritt hinterher, denn plötzlich kippte die Stimmung und es roch nach Ärger. Kennt ihr diese Gefühle, wenn man weiss, dass man nicht allein in einem Raum ist, aber man kann niemanden sehen? Ich spürte, dass wir nicht allein waren. Ich war so neugierig, dass ich einfach in diese selbstgebaute Plastikhöhle schauen musste. Ich bereitete mich darauf vor angeschrien oder schlimmer noch, verprügelt zu werden, und zog schnell und bestimmt den Eingangsplastikfetzen bei Seite.
Niemand war da. In der Mitte eine Feuerschale aus Plastik, in der Glut glimmte und giftigen Rauch verteilte. Jemand hatte offenbar versucht das Feuer schnell auszutreten und wurde damit nicht fertig. Dario wurde unruhig « Doro wir müssen hier raus. Sofort!», zischte er mich an. Ich verstand ihn. Ich verstand auch, dass die Menschen, welche uns gerade vielleicht beobachteten, mehr Angst vor uns hatten, als wir es vor ihnen zu haben brauchten. Eigentlich wären wir gezwungen gewesen, ihnen zu helfen. Wir hätten sie suchen müssen! Ich schaute mich weiter um und sah wie sie sich ihr Zuhause mit Plastik und Müll eingerichtet und zurechtgeschnitten hatten. Es gab drei Plastikbetten, einen Plastikwasserkocher, Trinkgefässe, „DORO!!!! KOMM JETZT!!! JETZT!!!”, er nahm meine Hand und zog mich aus der Hütte und aus dem Gewächshaus. Draussen angekommen nahm ich erst einmal viele tiefe Atemzüge und starrte in die Sonne, die immer alles sah, weitersehen konnte als ich, viel mehr beobachten konnte als ich. Sie wusste bereits davon und hatte schon viele, viel schlimmere Dinge gesehen, etwa wie viele Menschen bereits ihr Leben gelassen hatten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, mit genug Nahrung und Trinkwasser, ohne Angst vor Gewalt und Tod, was ja angeblich Menschenrechte sein sollen. Falls sie die gefährliche Überfahrt im Schlauchboot über das Mittelmeer überlebten, landeten sie womöglich in einem legalen/illegalen Gewächshaus, als illegal eingereiste Menschen und hatten am Ende noch mehr verloren, als sie jemals gehabt hatten. Sie dienten uns als Sklaven und lebten in einer Welt aus Plastik, Gift und Müll, um uns mit unseren geliebten Früchten und Gemüse zu versorgen, natürlich zu billig Preisen und das ganze Jahr erhältlich, sauber verpackt in: Ja,Plastik!
In meinem Kopf drehte sich alles. Dario hatte einen Trampelpfad neben dem Gewächshaus entdeckt und mit zwei Hippies gesprochen, welche uns entgegenkamen. Er sprach irgendetwas in meine Richtung. Ich hörte nicht zu und fragte nicht weiter nach, nahm einfach an, er wisse jetzt, wo es zum Meer ginge, und lief gedankenverloren hinter ihm her. Diese Ungerechtigkeit auf dieser Welt macht mich richtig fertig!, dachte ich und erhob meinen Blick vom staubigen Trampelpfad. Was ich dann erblickte lies mich erneut erstarren. Die schönste Natur. Das Meer, die Felsen und die komplette Felswand behangen mit zerfetztem, vom Wind fortgewehtem Plastik. Riesige Plastikfolien, welche nicht mehr dicht genug waren, um als Gewächshausdach von Nutzen zu sein. Die Tränen schossen mir in die Augen und ich wünschte mich zurück in die Zeit der Mauren. Da gab es noch kein Plastik, ja vieles andere Nützliche auch nicht, aber dafür eine gesündere Flora und Fauna. Tapfer und schweigend liefen wir weiter. An Dario ging das ebenfalls nicht spurlos vorbei. Mittlerweile entdeckten wir den kleinen Geheimstrand, den wir uns erhofft hatten. Zwei Hippiefamilien und ein weiteres Pärchen hatten sich hier eingefunden, um das Meer in seiner Schönheit geniessen zu können. Aus vorherigen lebensbedrohlichen Abenteuern im Pazifik, wusste ich, dass ich das Meer, seine Wellen und das Badeverhalten der anderen erst einmal beobachten musste, bevor ich in die Wellen eintauchen würde. Dario platzierte sein Handtuch, zückte sein Buch. Er tauchte lieber in Geschichten ein als in wildes, kaltes Wasser. Nun würde ich Spass mit mir selbst haben. Ich sah einen Herrn das Wasser verlassen, nahm das als Startsignal und begann mein Badeabenteuer.
Das kalte, klare Wasser spülte meine Gedanken und Trauer fort. Ich konnte sie einfach dem Wasser übergeben. Oft hört und liest man vom Erden und wie wichtig das sei. Auf mich, als stark erdverbundener Mensch, hatte das Wasser, das Eintauchen in Seen, Flüsse, Ozeane, Meere, Brunnen, Badewannen und Schwimmhallen, genau diesen Effekt, welcher vom Barfuss über eine Wiese gehen, angepriesen wurde. Ich vergas mich innerhalb der ersten Minuten, hatte keine Angst vor den Tiefen und fühlte mich absolut sicher, denn ich konnte ohne Probleme in Richtung Strand und wieder weg von ihm schwimmen. Zu wissen, dass ich mir mit unzähligen Fischen, Delfinen und Walen das Wasser teilte rief in meinem Körper ein Gefühl des absoluten Glücks hervor. Ich musste sie nicht sehen, ich spürte, dass sie da waren.
Doch plötzlich kam eine grössere Welle und klatschte mir eine Menge Wasser über den Kopf, welches mich nach unten drückte. Panik stieg in mir auf, denn ich hatte bereits einige Jahre zuvor mein Leben um ein Haar dem Pazifik geschenkt, wenn Dario mich nicht aus dem Wasser gezogen hätte. Ich versuchte ruhig zu bleiben und suchte schwimmend die Wasseroberfläche. Ich kam oben an, schnappte nach Luft und wurde von der zweiten Welle unter Wasser gedrückt. Ich spürte, wie ich in eine Strömung geraten war und wusste, dass ich nur eine Chance hatte, wenn ich mit ihr und nicht gegen sie schwimmen würde. Ich hoffte, dass sie mich in Richtung Strand und nicht ins offene Meer führen würde. Ich brauchte Luft. Ziemlich dringend. Meine Kräfte begannen bereits zu schwinden. Ich wusste ich hatte nicht viel Zeit. Ich sah nichts. Wusste nicht wo oben und wo unten war, also blies ich meine Restluft aus, um den Blasen in Richtung Wasseroberfläche zu folgen. Es musste schnell gehen, ich brauchte Luft. Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit haben würde, oben an der Wasseroberfläche. Ich musste sehen wo ich war und einen Weg zum Strand finden. Ich folgte den Luftblasen, wie einem roten Faden. Als ich oben ankam, erblickte ich einen Felsen, auf welchen mich die kräftigen Wassermassen zu trieben. Ok, ein Aufprall würde weh tun, aber immerhin war es nicht das offene Meer. Sah Dario, dass ich Hilfe benötigte oder eine der Hippiefamilien? Vielleicht kamen sie schon? Zack die dritte Welle riss mich mit sich. Als ich erneut meinen Luftblasentrick anwenden wollte, um die Richtung nach oben zu finden, kam mir plötzlich ein lebensrettender Gedanke. Wenn das Wasser, so viel Sand aufwirbeln konnte, dann bedeutete das, das der Boden nicht weit weg sein konnte. Los steh auf! Versuche es wenigstens!, feuerte ich mich selbst an und suchte mit meinen Beinen den Boden. Da war er. Fest und unaufgeregt war er einfach da. Ich konnte stehen. Das Wasser ging mir nun bis zur Brust. Ich keuchte und hechelte. Ich war fix und fertig. Dann musste ich lachen. Ein erleichtertes Lachen. Ich sah Dario am Strand liegen in sein Buch vertieft. Diesmal hätte er mich nicht gerettet. Ich hätte sterben können. Auch die anderen hatten nicht bemerkt, das ich fast gestorben wäre. Aus purer Dummheit muss man leider sagen. Dieses Gefühl wurde schnell abgelöst vom Stolz. Ich war so stolz auf mich. Ich hatte mich selbst in Gefahr gebracht, ja das schon, aber ich hatte mich auch selbst wieder gerettet. Ich war müde. Ging aus dem Wasser, bedankte mich bei ihm, dass es mich wieder frei gelassen hatte, legte mich neben Dario, schaute ihm beim Lesen zu und war dankbar. Dankbar für das sichere, reiche Leben, welches ich leben durfte und immer noch geniessen darf.