Loophole Halloween 2014
Ich stand vor meinem Spiegel und schaute mir in die Augen. Manchmal kam es mir vor, als könnte ich durch meine Augen tief in meine Seele blicken. Ich tauchte dann so richtig ein in mein blau-grau-gelbes Augenmeer und stellte mir währenddessen Fragen wie: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wenn ich mich nur auf die Farben meiner Iris konzentrierte, konnte ich Raum und Zeit verlassen. Es war eine Meditationsform, die ich für mich entdeckt hatte, völlig unbewusst und unreflektiert. Da fiel mir wieder ein, dass wir losgehen wollten und die anderen schon parat waren und nur noch auf mich warteten. Es folgte der praktische Blick in den Spiegel. Dort sah ich eine junge Frau. Sie gefiel mir. Ich zog einen dicken schwarzen Lidstrich à la Amy Winehouse und malte meine Lippen mit knallrotem Lippenstift an. Meine blonden wuscheligen Haare verwuschelte ich noch etwas mehr und schon war ich bereit für die Berliner Nacht. Es war eine besondere Nacht: Halloween. Der kommerzielle Teil an diesem Fest interessierte mich weniger als der Übergang in die dunkle Jahreszeit, die Rituale, die den Verstorbenen gewidmet sind, und die Dankbarkeit für all die Nahrungsmittel, die wir in den warmen Sommermonaten ernten konnten und die uns nun sicher über den Winter bringen sollten. Klar konnte ich dank des Kapitalismus immer in den nächsten Supermarkt oder – wenn das Geld reichte – in den Bioladen gehen und mir kaufen, was ich wollte. Aber die alten Feste und Rituale gaben mir ein Gefühl der Geborgenheit. Damals lehnte ich alle möglichen Feste und traditionelle Rituale ab, außer Geburtstage. Ich mag noch immer alte Dinge, also auch Antiquitäten, alte Bücher etc. Doch kommen wir zurück in das Badezimmer meiner Zweier-WG in Berlin-Neukölln und die Nacht von Halloween 2014.
Obschon es nachts bereits ziemlich kalt wurde, zog ich eine Feinstrumpfhose an mit einem Band kleiner schwarzer Katzen, die um meinen Oberschenkel zu laufen schienen. Ich fand das sehr neckisch und etwas gewagt. Aber in einer Nacht wie Halloween sollte das schon mal gehen. Dazu trug ich einen schwarzen Minirock, ist klar. Ich trat aus dem Bad und sah meine Mitbewohnerin sowie ihren Freund und meinen Bandkollegen an. Im Wohnzimmer alberten sie herum und freuten sich. Wir hatten uns vorgenommen gemeinsam in die Nacht zu starten, Ende offen – wie immer in Berlin. Eine Mega-Party war nicht geplant, wir wollten in Bars abhängen zusammen mit einem Freund, der einer unserer wenigen Fans war und ebenso elektronische Musik produzierte. Auf dem Weg von unserer WG zu seiner kehrten wir in jede Bar ein, auf die wir spontan Lust hatten. Alle waren, laut, heiss und verraucht. Irgendwann kamen wir bei Sam an, in seiner schönen Remise. Er zeigte mir sofort seinen Musikbereich. Mir fiel die Kinnlade runter. Woher hat er das Geld für dieses Equipment? fragte ich mich. Normalerweise interessierte mich das überhaupt nicht, wer wie viel Geld hat. Ich stand vor seinem Rechner mit den drei Monitoren, einem riesigen Mischpult, einem hochwertigen Synthesizer-E-Piano, einem fetten Chaos Pad zum Produzieren von Beats, Gitarren, Bässen, allen möglichen Verstärkern und Kabeln und natürlich einer krassen Soundanlage. «Was machst du für Musik? Mit wem? Ist das alles deins? Lass mal was hören!» platzte es aus mir heraus. Dieser Ort war im ersten Moment für mich wie ein Spassbad mit Wellen und Rutschen und ich rastete völlig aus. Peinlich berührt schaltete er seine selbst produzierte Musik an. Gar nicht mal so schlecht, dachte ich und beobachtete ihn. Er erinnerte mich an Jozef van Wizzem, schlaksig, gross, lange Haare und den Vampir aus dem Film «Only Lovers Left Alive» von Jarmusch. Das fand ich spannend, denn das Dunkle, Düstere, leicht Verdorbene mochte ich schon immer (hat vielleicht was mit meinem Geburtsland DDR zu tun, wer weiss…). Doch die Spannung hielt nicht lange an, jammen wollte er nicht und auch sonst konnten wir nicht wirklich mit ihm sprechen aufgrund seiner ausgeprägten Amphetaminsucht. Hingegen konsumierte ich Speed nur, um mehr Alkohol trinken zu können, fand sie aber ansonsten langweilig und nutzlos. Dieser Typ zog sich eine fingerdicke Line nach der anderen in die Nase und war somit ausserstande mit uns zu sprechen, geschweige denn Musik zu machen. Mein Bandkollege sah mir an, dass ich das ziemlich krank fand, und flüsterte mir zu: “Sam geht es zurzeit nicht so gut.” Er sei depressiv und hinge meistens in seiner verdunkelten Remise über seiner Musik brütend. “Wohl eher über seinem Speed!”, meinte ich und schlug vor zurück nach Neukölln in einen meiner Lieblings-Clubs zu gehen: das Loophole. Ein kleiner Laden mit einer Minibühne und einem Keller, der manchmal auch geöffnet war. Und wenn ich Keller sage, dann meine ich auch Keller. Sam fand die Idee super und meine beiden Freund:innen auch, denn unsere Nasen hatten genug Amphi bekommen, und nun war es wirklich zu trostlos in dieser Höhle mit dem teuren Equipment geworden. Wir liefen los, jetzt ziemlich schnell, ohne in einer anderen Bar anzuhalten. Wann meine Freund:innen, die ja auch ein Paar waren, sich geschickt von uns abseilten, weiss ich nicht mehr genau. War aber nicht weiter wild, schließlich war das Loophole so etwas wie ein verlängertes WG-Wohnzimmer. Da es nur eine Querstrasse von meinem Zuhause entfernt lag, traf ich meist irgendjemanden, lernte jemand Neues kennen, quatschte mit den Besitzer:innen, die ich sehr mochte, oder tanzte im besten Fall.
Das Loophole befand sich in der Boddinstrasse nahe dem Rathaus Neukölln in einem ehemaligen Ladengeschäft. Es waren zwei Räume, die miteinander verbunden waren und schlauchartig vom Eingang gerade nach hinten verliefen. Über dem Türbogen ohne Tür, der in den Tanz- bzw. Bühnenraum führte, hing ein gigantisch grosser Kopf, ich glaube aus Pappmaché. Die Bar im vorderen Bereich war selbst gebaut, alles war improvisiert und selbstgemacht, die Fenster verklebt und alles war bunt. Ich liebte es. Der Bühnenraum war auf das Wichtigste beschränkt: Es gab die Bühne auf einem Podest, Licht und manchmal eine Nebelmaschine – das wars. Wenn viele Besucher:innen erwartet wurden, öffneten sie den Keller, in dem ein paar alte Sofas und Stühle standen. Kerzen leuchteten auf kleinen Beistelltischen und es war fast wie zuhause...
Über die Jahre wurde das Loophole immer bekannter, sprich überrannter und schick, was in Berlin anti-schick und anti-hip bedeutet und somit für mich immer unattraktiver wurde. Für mich hatte es seinen heimeligen Charme verloren, dafür war es jetzt immer zu überfüllt. Es muss 2011 gewesen sein, als ich das erste Mal im Loophole war. Ich erinnere mich, dass ich auch dort war, wenn noch kein Konzert lief oder es schon vorbei war. Zoran, Jan oder Kolleg:innen von ihnen, waren immer da. Zoran faszinierte mich ein bisschen, nicht sexuell, mehr wegen seiner Erscheinung und Ausstrahlung. Ich fand sein Gesicht sehr spannend und schaute ihm gern beim Reden zu, er war recht exzentrisch, zumindest habe ich ihn so wahrgenommen. Ich mochte ihn, denn er war wie alle dort Künstler:innen und hatte es sich auf die Kappe geschrieben, als solcher auch zu leben. Jan erinnerte mich an einen guten Freund aus meiner Antifajugend und Schulzeit. Aus diesem Grund mochte ich ihn von Beginn an. Er war auch Künstler und hatte eine sehr sanfte Art mit Menschen zu kommunizieren. Er schien sie zu lieben, aus vollem Herzen und uneigennützig. Er war sehr neugierig und interessiert. Wenn ich ihn sah, dachte ich irgendwie immer an Wald und Wiese, auch wenn wir davon weit entfernt waren. Er erinnerte mich an meine Kindheit, die ich teilweise auf dem Land bei Künstlerfreund:innen meiner Eltern verbracht habe. Ich liebte es mit Jan zu reden und fühlte mich deshalb wie zuhause, obwohl ich nicht zum Team des Loophole oder zum Freundeskreis gehörte. Ausserhalb des Loopholes sah ich Jan und Zoran nie. Die ersten Nächte die ich dort verbrachte, hatten mich einfach nur glücklich gemacht. Richtig abgefahrene Konzerte erlebte ich dort und lernte spannende Musiker:innen kennen. Ich fühlte mich verstanden. Wie sehr ich mich als Sängerin outete, weiss ich nicht mehr. Ich sang eine Zeitlang in vielen Kellern, doch in diesem nicht, glaube ich. War auch nicht wichtig, denn ich hörte dort den besten Krautrock, Psyrock, alternative Technopartys und alles, was mein Künstlerinnenherz begehrte und natürlich gab es gutes Bier und was das Herz noch so begehrte. Ich ging also immer wieder gern dorthin. Mit der Zeit wurde es immer voller und voller. Ich kam nicht mehr dazu, mit den Barleuten zu schnacken und erkannte von Jahr zu Jahr immer weniger Leute wieder, witzigerweise…
Zurück zur Geschichte. Sam und ich standen vor dem Loophole. Ich erschrak, denn die Menschenansammlung vor dem Laden war so gross, dass ich nicht sicher war, ob wir noch reinkommen würden. Das stellte sich als das geringste Problem heraus. Es war so voll, dass ich mich nicht frei bewegen konnte – ein Umstand, den ich nicht mochte. Ich bestellte mir ein Bier und ging zum Luft schnappen erst einmal in den Keller. Ich musste ankommen, mich auf die neue Situation einstimmen. Es war so voll, dass ich keine bekannten Gesichter ausfindig machen konnte, jemand, an den ich mich heften könnte, um Sam loszuwerden. Der war nämlich immer noch bei mir, aber ich langweilte mich mit ihm und wollte ihn loswerden, so hart es klingen mag. Er nervte! Seine Anwesenheit zog mich runter und mir war klar, dass ich mit ihm und seiner Stimmung niemanden kennenlernen würde. Zum Tanzen musste ich mich erst einmal animieren. Er sass neben mir im Keller und ich war kurz davor einfach nach Hause zu gehen, denn ich fühlte mich plötzlich einsam inmitten der Menschen. Ich hatte keine Lust zu tanzen, wenn die ganze Zeit ein schweigendes Speed-Vampir-Monster in meinem Schatten steht.
Doch plötzlich wurde er unruhig, wühlte in all seinen Taschen und blickte mich mit aufgerissenen Augen an: «Scheisse! Ich habe mein Speed zuhause vergessen! Tut mir leid, ich gehe das schnell holen und komme dann gleich wieder!» Blitzschnell ging das. Zack war er aufgestanden und auf und davon. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und war dann einfach nur froh, dass er weg war. Lachen, weil es für mich eine Erleichterung darstellte allein zu sein oder weinen, da ich mir sein Leben sehr trostlos vorstellte. Der Keller war leer. Ich starre vor mich hin, atmete zufrieden ein und aus, trank genüsslich mein Jever und freute mich, dass ich fürs Erste nur in meiner eigenen Blase war. Gedanken wie ”Jetzt bist du allein, bleibst du hier oder gehst du woanders hin oder einfach nach Hause? Mit Jule noch eine Runde Gassigehen?”, schob ich gekonnt zur Seite, denn ich merkte, wie sehr mich die letzten Stunden angestrengt hatten. Verrückt, welche Wirkung wir Menschen aufeinander haben. Wie traurig dieser Mann war! Anstatt sich wegen seiner Depression Hilfe zu holen, schoss er sich einfach weg, machte alles noch viel schlimmer und damit war er nicht allein. Naja, nicht mein Problem. Ich hatte eigene. Während mir diese Gedanken kamen, bekam ich aus den Augenwinkeln mit, dass sich ein Mann neben mich gesetzt hatte. Doch aufgrund meines Zustandes, war mir das gleichgültig. Ich schaute ihn nicht an, bis er mich ansprach. «Bist du allein hier?», fragte er. Ich mochte seine Stimme, samtig, leicht bassig. Ich drehte meinen Kopf zu ihm hin: «Im Moment ja, und du?», sagte ich. «Ich auch», erwiderte er. Ich folgte seiner Geste und wir stiessen mit unseren Bieren an. Dann sagte er: «Entschuldige bitte, dass ich so direkt frage. Hättest du Lust mit mir zu schlafen?» Ich war überrascht, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Ich mochte die direkte Art immer sehr, da ersparte ich mir so einiges. Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn mir an: Jetzt wirkte er etwas verlegen. Er war ein sehr schöner, gepflegter, grosser Mann. Er hatte ein auffallend breites Kreuz, die langen Haare zu einem ordentlichen Zopf gebunden, einen Drei-Tage-Bart und ein freundliches Gesicht. Es ist dunkel im Keller und ich war nicht mehr nüchtern, also erinnere ich mich leider nicht mehr so genau an sein Gesicht. « Ja, das können wir gern ausprobieren. Wie hast du dir das denn vorgestellt? Sollen wir zu dir oder zu mir gehen?», fragte ich ihn mit einem Schmunzeln im Gesicht. Seine Augen wanderten von meinem Gesicht durch den Keller und wieder zu meinem Gesicht.
«Naja, zu mir können wir nicht gehen.»
«Ah, ja klar. Hast du eine Freundin, die da auf dich wartet?», sagte ich, trank einen Schluck Bier, drehte mich von ihm weg und wusste nicht so recht, was da gerade geschah. Er merkte das: «Also es ist so: Ich bin ein alleinerziehender Vater und habe die Babysitterin bis morgens um 5 Uhr bezahlt, dann muss ich wieder zuhause sein. Deshalb können wir nicht zu mir. Ich musste einfach mal wieder nachts raus und kam hierher und da bist du mir aufgefallen. Ich dachte…» Als er anfing zu reden, beschloss ich ihm alles zu glauben. Das sagte ich ihm auch. Er war mir mega sympathisch und ich war so dankbar, dass er da war und mich das fragte, denn ich hatte schon seit ein paar Wochen keinen Sex mehr gehabt.
Ich war bereits seit einigen Jahren Single und die anfängliche sexuelle Austobe-Phase hatte schon ihren Reiz verloren. Ich wollte wieder eine Partnerschaft, aber bis diese kommen sollte, gern einfach vögeln, vor allem wenn das gleich so offen verhandelt wurde. Er wirkte ziemlich nüchtern und reif, was mich etwas einschüchterte. «Du kannst gern mit zu mir kommen, wenn du magst. Ich wohne hier gleich um die Ecke. Allerdings bin ich nicht mehr ganz nüchtern. Ich weiss nicht, ob dich das vielleicht stört.» Während ich das sagte, kam er näher zu mir, schaute mich an und küsste mich. Seine Lippen waren warm und weich und ich mochte sie sofort. Ich mochte ihn, und ja, ich freute mich darauf, ihn mit in mein Bett zu nehmen. «Du schmeckst doch gut,» sagte er. «Komm wir gehen.» Und so verliessen wir das kleine, feine Loophole und schlenderten durch die Nacht den kurzen Weg bis zu mir nach Hause. Das Berliner Kopfsteinpflaster schimmerte in den schönsten Grautönen und die auf alt gemachten Laternen verteilten ein warmes, goldenes Licht.
Neben ihm zu laufen, fühlte sich auf der einen Seite gewohnt und entspannt an und auf der anderen Seite war ich doch etwas nervös, denn ich war beseelt von dem Gedanken, mal wieder Sex zu haben, und wusste auch gar nicht, wen ich mit zu mir nach Hause nahm. Ich freute mich mit jemandem reden zu können. Er war nüchtern. Er wollte nicht auf alle meine Fragen detailliert antworten. Dabei blieb er stets höflich. Er wollte nicht so viel von sich preisgeben, um seinen Sohn und sich zu schützen, und so stellte er mir ein paar Fragen zu meinem Leben. Nach wenigen Minuten waren wir in meiner Wohnung im vierten Stock angekommen. Mein Hund freute sich mich zu sehen, begrüsste mich und ging danach wieder auf seinen Platz, denn sie war müde von unserem Tagesausflug. Meine Mitbewohnerin war nicht zuhause. Sie war wohl zu ihrem Freund gegangen oder auf einer Party gelandet. Ich zeigte ihm mein Zimmer und war etwas nervös. Ich fing an schneller zu reden. Das mache ich immer, wenn ich nervös bin: reden. «Ich geh’ schnell duschen. Brauchst du irgendetwas?» fragte ich ihn und versuchte in meinem dunklen Zimmer sein Gesicht zu erblicken Ich sah, dass er lächelte. «Du brauchst dich nicht extra für mich zu duschen. Du riechst wirklich gut!» flüsterte er mir ins Ohr, nahm meine Hände und zog mich zu sich. Er war wirklich gross und ich fühlte mich gut dabei, einfach alles loszulassen und mich vom Moment tragen zu lassen. Er küsste mich, dann zog er seinen Pullover und sein Shirt aus. Er war so schön. Ich schaute, besser: starrte ihn an. Er kam mir behutsam entgegen und ich signalisierte ihm, dass er mich ausziehen dürfe. Das fand ich schöner, als mich selbst auszuziehen. Wir hatten absolut unromantisch gestartet, trotzdem legten wir uns beide richtig ins Zeug, die wenigen verbleibenden Stunden miteinander zu geniessen. Ich fühlte mich ein bisschen wie in diesen Märchen, in denen der Prinz und die Prinzessin nachts beieinander sein können und dann pünktlich auf Glockenschlag einer von beiden gehen muss, sonst passiert etwas Schlimmes. Als ich nackt vor ihm stand, kam er ins Stocken. Ich musste schmunzeln, nahm seine Hände und zog ihn auf mein Bett. Seine Berührungen gefielen mir. Ich fühlte mich wie ein Baum, der lange Zeit auf Regen gewartet hatte und endlich wieder getränkt wurde. Er ging auf Tauchgang und lernte jeden Zentimeter meines Körpers kennen. Ich flog. Das bunte Licht der Reklame vom Hausgegenüber, die Aufmerksamkeit für den Patriarchenschuppen wecken sollte, versetzte mein Zimmer jede Nacht in Jahrmarktstimmung. (Der Laden erfüllte wohl mehr den Zweck einer Geldwäscherei, als eine Bar zu sein.) Doch nun verwandelte es sich in silbernes Mondlicht und störte mich kein bisschen mehr. Meine goldenen Vorhänge funkelten und die Palme, die teils über meinem Bett hing, beschütze uns und bot ein zusätzliches Dach. Irgendwann, jegliches Gefühl für Zeit war gewichen, erschien sein Kopf wieder vor meinem. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen und versuchte seine Gesichtszüge zu erkennen. Aber das Licht von der Strasse reichte dafür nicht aus. Ich fragte ihn, ob wir nicht lieber eine Kerze anzünden sollten, um uns ein bisschen zu sehen. Doch er wollte, dass ich einfach nur bei ihm im Bett blieb, sei doch auch schön so, meinte er. Das Fühlen wurde zum Sehen. Sein Zopf war verwurschtelt. Ich suchte den Haargummi und löste ihn, fuhr mit den Händen durch sein langes, gepflegtes, dichtes, dunkelbraunes Haar. Wunderschön, dachte ich. Es kribbelte in meinem Bauch. «Ist alles in Ordnung? Gefällt es dir?» Ich hätte heulen können vor Rührung. «Ja klar, du fühlst dich einfach nur wundervoll an.». Ich liess ihn nicht mehr los, hielt mich fest, er war so stark und ich genoss jede Sekunde mit ihm. Ich fühlte mich so sicher und respektvoll behandelt. Während wir uns liebten und zu einer Einheit verschmolzen, kam es mir vor, als kannten wir uns schon ewig, als hätten wir schon oft das Bett miteinander geteilt. danach lagen wir befriedigt nebeneinander und kuschelten, Doch während wir mit unseren Fingern über unsere Haut fuhren, wurden wir so wild aufeinander, dass wir gleich wieder übereinander herfielen, bis... ja, bis der Märchenfaktor eintrat. Er blickte auf die Uhr und verkündete, dass er nun wirklich gehen müsse wegen seines Sohnes. Die Babysitterin habe er nur bis fünf Uhr bezahlt und er wäre gern zuhause, bevor sein Sohn aufwacht. Ich nickte und stand mit ihm auf. «Das verstehe ich, war ja auch so abgemacht. Ich bin allerdings doch ein bisschen traurig, dass du gehst. Es war viel schöner, als ich es erwartet hätte. Vielen Dank für die schöne Nacht. Du hast mir den Abend gerettet. Möchtest du vielleicht meine Telefonnummer mitnehmen? Du kannst gern mal wieder zu mir kommen, auch wenn es nur für ein paar Stunden mitten in der Nacht ist. Also, nur wenn du magst, natürlich.». Er zog sich an, während ich sprach. Ich schaute ihm dabei zu und blieb nackt. «Ja, gib mir gern deine Nummer. Ich fand es auch sehr schön. Tut mir leid, ich muss jetzt wirklich schnell los.» Ich begleitete ihn zur Wohnungstür, wir umarmten uns und ich gab mir Mühe nicht anhänglich zu wirken. Ich hörte seinen Schritten nach, wie die Haustür in der Ferne geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Es war noch dunkel, kurz bevor die Morgendämmerung eintrat. Meine Hündin schlief friedlich und liess sich von mir nicht stören. Ich ging zurück in mein Bett und atmete tief ein und mit einem Seufzer wieder aus. So viele Männer hatte ich nach dem Sex gebeten, mich schlafen zu lassen oder sogar gebeten zu gehen und nun lag ich da und war traurig darüber, dass er schon weg war. Ich hätte gern ein paar Stunden in seinen Armen geschlafen und ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, im Tageslicht. Hoffentlich ruft er bald an. Ich hatte dieses Singleleben so satt. Mist. Da war sie: die Hoffnung, dass wir uns auch neben dem Sex gut verstehen könnten, mehr noch lieben könnten. Ich musste ehrlich zu mir sein, ein bisschen schockverliebt war ich in den schönen Unbekannten, den ich vorher noch nie im Loophole oder in einer meiner Stammkneipen gesehen hatte. Ob ich ihn im Hellen wiedererkennen würde?
Die Tage vergingen, kein Anruf. Die Wochen vergingen, kein Anruf. Ich habe mich getäuscht. Ich habe ihn wohl mal wieder mehr gemocht als er mich. Wir waren nur zum Sex verabredet. Klar meldet er sich jetzt nicht mehr. Vielleicht war ich ihm doch zu langweilig.
Fünf Monate später hatte sich das Leben gewandelt. Ich hatte meine Arbeit gekündigt, mir die Mandeln wegen Dauerentzündung entfernen lassen und beim Erwachen aus der Vollnarkose gewusst, ich muss raus aus Berlin. Kurz darauf lernte ich in der Schweiz meinen jetzigen Mann kennen, ich ging zurück nach Berlin, kündigte meine Wohnung und hatte drei Monate Zeit mich von meinem alten Leben, meinen Freund:innen, meiner Schwester, meinen Lieblingsorten, meiner Vergangenheit zu verabschieden. Einen Monat vor meiner Auswanderung ging ich mit einer Freundin unsere Lieblingsrunde durch Kreuzkölln spazieren. Vertieft ins Gespräch zogen wir unsere ewig gleichen Kreise. Da klingelte mein Telefon, eine nicht eingespeicherte Nummer, ich ging ran. «Ja,» zögernd begann eine männliche Stimme zu sprechen. «Hey, ich wollte mich eigentlich schon eher melden… Wir haben uns letztes Jahr an Halloween im Loophole kennengelernt. Du hast gesagt, ich kann mich wieder bei dir melden.» Ich riss meine Augen auf, konnte nicht atmen, sofort legte ich auf. Kein Wort gesagt, einfach aufgelegt. «Was ist denn los? Wer war das? Alles in Ordnung mit dir?» Ich war geschockt. Warum meldest du dich erst jetzt? Jetzt ist es zu spät! Ich kann dich nicht mehr sehen, nicht treffen, wenn es wieder so schön wird und ich dann Berlin vielleicht doch nicht mehr verlassen möchte. Ich habe doch schon gekündigt und ein Zimmer in der Schweiz und überhaupt, willst du wieder nur Sex? Scheisse, ich mag dich. Ich will mich mit dir treffen. Nein! Da ist dieser Mann in der Schweiz. Den muss ich näher kennenlernen und, wenn das mit ihm und mir nichts wird, dann... Dann… Ich schaute sie an, versuchte ganz ruhig zu wirken: «Ach nichts, nur so ein Typ, mit dem ich letztes Jahr mal was hatte. Wollte sich mit mir treffen. Jetzt ist es zu spät, ich gehe lieber mit dir die ganze Nacht spazieren und reden und mit meiner Schwester und mit meinen Freund:innen weg. Die letzten Tage in Berlin möchte ich mit euch verbringen und jeden Moment geniessen. Ich werde euch alle bestimmt sehr vermissen.» Wir umarmten uns und zogen weiter unsere Bahnen. In mir kreisten die Gedanken. Ich rief nie zurück, bis ich meine alte deutsche SIM-Karte eines Tages verlor und so die Möglichkeit, diesem sympathischen Mann zu erklären, was ich damals nur denken konnte. Es wäre zu gefährlich gewesen ihn noch einmal zu treffen. Doch heute schäme ich mich, dass ich es ihm nicht einfach so sagen konnte.
Erste Auflage 2024, Copyright © Dorothea Schwirtz www.dorothea-schwirtz-personalcoach.com Lektorat Luise Schirmer. Das vorliegende Werk ist, einschliesslich all seiner Teile, urheberrechtlich geschützt.